Zimmer 312

Ein leises Klingeln schreckte sie aus ihren Gedanken. Die Aufzugtüre öffnete sich und sie trat hinaus, vorbei an einem älteren Händchen haltenden Paar. Eigenartig, dass ihr dieser Anblick einen feinen Stich im Herz verursachte. War es das Wissen, dass ihr selbst ein derartiges Leben verwehrt blieb? Den Gedanken von sich schüttelnd lief sie zielstrebig zu der Tür mit den goldenen Ziffern 312.
Sie griff in ihre Manteltasche, holte den Schlüssel hervor und steckte ihn ins Schloss. Aufmerksam achtete sie darauf ob er sich zweimal herumdrehen ließ. Langsam öffnete sie die Türe und ihr Blick schweifte mit wachsamen Augen durchs Zimmer. Dabei versuchte sie zu erfassen, ob eine Veränderung seit dem letzten Aufenthalt hervor stach. Auf den ersten Blick, schien alles unberührt. Sie stellte ihre Einkaufstasche neben der Garderobe ab und schlüpfte aus dem Mantel. Abgespannt betrat sie das kleine Bad, drehte den Wasserhahn an und wusch sich mit kaltem Wasser das Gesicht. Nach dem Abtrocknen betrachtete sie sich im Spiegel. Das also war Sie. Grüne Augen, Krähenfüße, ein schmaler Mund und ebenmäßige Gesichtszüge. Die Nase war nach ihrem Geschmack etwas zu spitz. Seufzend wandte sie sich ab und lief zurück ins Zimmer. Müde streifte sie die Schuhe ab, warf sich aufs Bett und schloss die Augen.

Und schon tauchte er wieder in ihren Gedanken auf – Jürgen! Mit seinen blonden Haaren und den azurblauen Augen. Er nahm sie mit auf verbotene Demos. Zeigte ihr wie man Molotowcocktails bastelte und führte sie in Kreise ein, die ihr vorher nur durch Zeitungsberichte bekannt waren.
RAF -Rote Armeefraktion. Die wahren Robin Hoods ihrer Zeit. Die Enkel der Gründer, die schon im Kampf um die Freiheit der Massen vor dem Kapitalismus gefallen oder ermordet waren. So oder so ähnlich, hatte sie wohl damals empfunden. Und an ihrer Seite immer Jürgen. Ihr Held, ihr Vorbild, ihr Geliebter. Nachdem man sich von ihrem Willen an der guten Sache überzeugt hatte, wurde sie aufgenommen in den engen Zirkel der Freiheitskämpfer. Weitab von der Stadt in einer stillgelegten Zeche bekam sie den ersten Schießunterricht. Sie erinnerte sich noch genau welch eigenartiges Gefühl der Stärke sie durchströmte als sie zum ersten Mal das kalte Metall einer Pistole in Händen hielt. Es war einfacher als sie sich vorstellte den Abzugshahn durchzudrücken – viel zu einfach wie sie später bitter feststellen musste. Doch damals war sie begeistert und sie entwickelte sich mit der Zeit zu einer ausgezeichneten Schützin. Bis zu diesem Zeitpunkt bestanden ihre Ziele jedoch nur aus unbeweglichen Pappfiguren.
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